Zurück in die Zukunft
Vor exakt zehn Jahren schrieb ich das Zukunftsessay „Rückblick aus dem Jahr 2020“. Aktuelle Trends in Gesellschaft, Konsum und Branche ließen in meinem Kopf ein Szenario entstehen, das qualitätsorientierte Augenoptikbetriebe eine Dekade später erleben könnten. Stellt sich aktuell die spannende Frage: Welche „Prognosen“ haben sich tatsächlich bewahrheitet bzw. was blieb unerfüllt oder unberücksichtigt? Viel Vergnügen bei der Lektüre des Originaltextes von 2010!
Rückblick aus dem Jahr 2020
Mein Name ist Maria Müller-Gyorgy. Ich lebe und arbeite in Hannover und habe soeben meinen 50. Geburtstag gefeiert. In der niedersächsischen Landeshauptstadt betreibe ich seit meinem späten Abschluss zum Bachelor of Science einen erfolgreichen Augenoptikbetrieb mit insgesamt zehn Mitarbeitern. Hannover hat sich in den letzten Jahren zu einem Top-Standort in Deutschland gemausert. Trotz ihrer klassischen Strukturen hat die Stadt den Übergang in die Moderne geschafft und kann mit Meta-Regionen wie Berlin oder München inzwischen gut mithalten. Die Einwohnerzahl ist aufgrund der Geburtenrückgänge zwar leicht gesunken. Starke Zuwanderung aufgrund der hohen Attraktivität des Umfeldes hat sich jedoch positiv ausgewirkt.
Als Frau gehöre ich zu den fünfzig Prozent Unternehmerinnen, die qualitätsorientierte Augenoptikbetriebe heute führen. In meinem Team arbeiten acht weitere Frauen und zwei Männer im Alter von 32 bis 78 Jahren, die zum Teil aus östlichen und südlichen Regionen Europas stammen. Einen höher qualifizierten Abschluss in der Augenoptik, den man in den 1990er Jahren noch mit „Meister“ oder „Diplom-Ingenieur“ betitelte, können sieben meiner acht Mitarbeiterinnen vorweisen – die beiden männlichen Teamkollegen haben das bislang noch nicht geschafft. Einer der beiden will trotz seiner 43 Lebensjahre zum nächsten Semesterbeginn aber einen Anlauf wagen – er sieht aufgrund seines jugendlichen Erscheinungsbildes aus wie 25 und erlebt gerade seinen zweiten Frühling. Ich mag ihn persönlich sehr und hoffe, dass er anschließend wieder zu uns zurückkehrt, denn er ist einfach ein klasse Teamplayer.
„Meine Mitarbeiter und ich verdienen das gleiche Grundgehalt“
Meine Mitarbeiter und ich verdienen übrigens alle das gleiche Grundgehalt – das haben wir vor fünf Jahren gemeinsam beschlossen. Einkommensunterschiede treten nur aufgrund der leistungsorientierten Entlohnung auf und weil ein Drittel des Teams noch nicht am Unternehmen beteiligt ist. Die Leistungsentlohnung basiert auf gegenseitiger Bewertung von Verhaltenskriterien im Umgang mit Kunden und Kollegen – mich selbst eingeschlossen. Wie viele Brillen und zu welchem Preis jeder bei uns verkauft, spielt schon lange keine Rolle mehr.
Diese und weitere Schritte – ich komme noch darauf zurück – sind auch das Resultat einer intensiven Zusammenarbeit mit einem auf die Augenoptik spezialisierten Consultants – ebenfalls eine Frau. Seit 2005, nun also schon 15 Jahre lang, lassen wir uns anhand eines so genannten 7-Punkte-Programms zur langfristigen Existenzsicherung kontinuierlich beraten und seit neun Jahren auch coachen.
Nachdem ich das Coaching zur besseren Erfüllung komplexer gewordener Führungsaufgaben und Vereinbarung von Beruf und Patchwork-Familie erst nur für mich in Anspruch genommen hatte, ging mir auf, dass es auch für die persönliche Entwicklung meiner Mitarbeiter nützlich sein könnte – was sich dann auch bestätigt hat. Unsere Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheitswerte sind innerhalb kurzer Zeit deutlich nach oben geklettert und unser Umsatz ist demzufolge seit 2015 nochmals um 30 Prozent gestiegen – letztes Jahr haben wir die Zwei-Millionen-Grenze geknackt.
„Ein- bis Zwei-Mann-Betriebe werden zum Auslaufmodell“
Für diese in unserer Branche außergewöhnlich gute Entwicklung waren jedoch auch wichtige strategische Überlegungen wegweisend. Die Eckpfeiler unseres CI-Auftritts haben wir analog zum Trend individueller Lebensstilgruppen ganz eindeutig auf die Bedürfnisse älterer Menschen ausgerichtet: Design, Service, Convenience und High Touch. Gerade „High Touch“ als ein nochmals gehobenes Niveau menschlicher Beziehungsqualität hat zu sensationellen Begeisterungswerten bei unseren Kunden geführt, die wir zuvor mit einseitig fachlich ausgerichteter Kompetenz zu keiner Zeit erreicht hatten.
In die technische Ausstattung unseres Geschäfts haben wir seit diesem Schlüsselerlebnis entsprechend weniger investiert – die Werkstatt ist bei uns sogar ganz verschwunden. Mehrere unzufriedene und unterbezahlte Mitarbeiter von Mitbewerbern in unserer Stadt haben sich 2012 trotz ihres fortgeschrittenen Alters von über sechzig mit einem Einschleifservice ganz in der Nähe selbständig gemacht. Diese erfahrenen Tüftler und Techniker liefern uns und anderen Kollegen in Hannover die gefertigten Brillen so schnell und in so perfekter Qualität, wie wir sie selbst nie hinbekommen haben.
Bei einigen meiner Konkurrenten sind die letzten fünf Jahre eher schlecht gelaufen. An herkömmlichen Hierarchien festhaltende Sichtweisen und überholte patriarchalische Verhaltensmuster in Sachen Unternehmensführung hatten zur Folge, dass ihnen erst die Mitarbeiter und dann die Kunden wegliefen. Die im Jahr 2000 noch erfolgreich agierenden Ein- bis Zwei-Mann-Betriebe wurden zum Auslaufmodell und sind heute weitgehend vom Markt verschwunden – zu Gunsten starker Win-win-Teams, wie wir sie mit unserer Unternehmenskultur verkörpern.
„Unsere Brillen beziehen wir von deutschen oder skandinavischen Designern“
Unsere anspruchsvollen Brillenmodelle beziehen wir seit 2007 ausschließlich über Anbieter von Insider-Marken, die zunehmend in kleineren deutschen und skandinavischen Design-Schmieden hergestellt werden. Die allseits bekannten und um globale Aufmerksamkeit ringenden Consumer-Marken haben wir endgültig aus unserem Sortiment verbannt, als 2012 die ersten Flagshipstores in Hannovers Zentrum ihre qualitativ ohnehin fragwürdigen Fassungen direkt an Endverbraucher verkauften – mit und ohne Korrektion, Sonnenbrillen gleich neben Sportartikeln, Dessous und Parfum. Dieser Schritt veranlasste die kleinen, aber feinen Insider-Werkstätten weltweit miteinander zu kooperieren, so dass wir heute im Bordermanagement Fassungen unterschiedlicher Hersteller jederzeit unbürokratisch austauschen können.
Da inzwischen selbst individuell gefertigte Brillen und Kontaktlinsen über das Internet zu beziehen sind – natürlich billiger, weil nach wie vor ohne Service – bewerben wir seit 2016 keine augenoptischen Produkte mehr. Stattdessen setzen wir auf 1:1 gesteuertes Dienstleistungs- und Beziehungsmarketing, welches uns höchste Anerkennung und dauerhaft zufriedene Kunden beschert.
„Die Discountmärkte waren 2010 endgültig besetzt“
Mein Name ist Maria Müller-Gyorgy. Ich bin jetzt ein halbes Jahrhundert alt. Ich freue mich auf die nächsten zwanzig Jahre, in denen ich in meinem Team den Beruf des Augenoptikers gern weiter ausüben werde. Vor den Groß- und Billiganbietern habe ich keine Angst mehr, denn die deutschen Discountmärkte waren 2010 endgültig besetzt, viel hat sich im preisorientierten Segment seitdem nicht mehr getan. Weiter zunehmende Alterung unserer Gesellschaft und die vielen Empfehlungen unserer Stammkunden spülen täglich zahlungsfreudige Zeitgenossen in unser Geschäft. Auf Entertainment und Erlebniskauf – das war der große Hit in den 2000er Jahren – können wir getrost verzichten, da die jungen Menschen rar geworden sind. Ein wenig fehlen sie mir, denn mit ihrem postadoleszenten Auftreten als Smart-Shopper haben sie uns damals ja auch gut gefordert. Heimlich wünsche ich mir, dass heute noch mal einer zu uns kommt, um etwas Abwechslung ins entspannte Alltagsgeschäft zu bringen.